Fotografie war und ist ein Ausgleich für mich, etwas, das mir Spaß machen soll. Etwas, das mir Freude bringen soll. Etwas, das mich ausfüllen soll. Wenn ich also zur Kamera greife, ist das zumeist rein persönlich und etwas, das ich für mich mache. Natürlich ändert sich das, wenn andere Menschen vor meiner Kamera stehen. Dann sollen und müssen natürlich auch meine Modelle Spaß haben – am Shooting und auch beim Betrachten der Ergebnisse. Das ist meine Art und meine Einstellung zur Fotografie, so halte ich es seit Jahr und Tag.
Einmal allerdings musste ich von dieser Regel abweichen. Nein, nicht grundsätzlich. Nur für einen ganz besonderen Fall. Dieser ganz besondere Fall war der Senior. Er war sogar ein ganz besonders schwerer Fall, wenn es darum ging, ein Foto von ihm aufzunehmen. Beinahe ein Ding der Unmöglichkeit.
Dass er Spaß an einem Fotoshooting haben würde, konnte ich also definitiv ausschließen. Dennoch wollte ich es durchziehen, denn da er schon einige Schicksalsschläge hinter sich hatte und seinerzeit wieder eine sehr schwere Zeit durchlebte, hatte ich mir aus meiner Not heraus, ihn immer wieder auf´s Neue aufbauen zu müssen und ihm eine Perspektive zu geben, ein Fotoshooting der etwas anderen Art überlegt.
Ich erzählte dem Senior im Krankenhaus von meiner Idee und sie stieß – natürlich – auf Ablehnung. Aber ich ließ nicht locker und schenkte ihm, als er wieder einmal aus dem Krankenhaus entlassen wurde, eine Fliegerhaube und die passende Brille dazu. Hinzu kam kurz darauf noch eine Lederjacke. Ein zunächst als Spaß gedachtes Outfit für seinen elektrischen Rollstuhl. Die Reaktion lag auf der Hand: “Ach was! Brauche ich nicht! Mache ich nicht!”. Aber Projekt ist Projekt und so ließ ich nicht locker und brachte das Shooting immer mal wieder zur Sprache. Lange Zeit ohne Erfolg. Umso überraschter war ich aber dann, als ich ihn zwischendurch einfach mal wieder fragte, ob wir nun nicht mal so langsam mal ein aktuelles Foto von ihm aufnehmen wollen, und er unerwarteterweise zustimmte. Also schlug ich ihm gleich vor, ihn in seinem neuen Outfit zu fotografieren.
Nächste Überraschung: Er willigte ein. Sofort machte ich mich auf den Weg zum Kiosk, um schnell noch eine Zigarre zu besorgen. Dann schnellstmöglich Licht und Hintergrund aufgebaut – immer im Hinterkopf, der Senior könnte seine Meinung doch noch ändern – und schon legten wir los. Zunächst etwas angespannt und angestrengt, dann aber kurzzeitig relativ locker. Kurzzeitig deshalb, weil der gesamte Raum eingeräuchert war, wir ansonsten beide nicht rauchten und sich deshalb nach ca. 10 Minuten alles vor unseren Augen drehte… Aber es waren einige Fotos im Kasten. Dann bekam die ganze Sache eine unerwartete Wendung. Schon beim Durchschauen der entstandenen Fotos hatten wir beide(!) viel zu lachen – und das allein war schon den Aufwand wert, denn das hatten wir zuvor schon lange nicht mehr!
Ich machte mich an die Bildbearbeitung in Adobe Lightroom, wobei es tatsächlich gar nicht soviel an den Bildern zu tun gab (siehe oben, Vergleich vorher/nachher). Kurze Zeit später zeigte ich ihm einige Ergebnisse und wir schmunzelten wieder. Also ging ich noch einen Schritt weiter und schlug ihm vor, eines der Bilder mal in Facebook etc. zu zeigen, denn es sind ja auch einige seiner Bekannten im Netz vertreten. Etwas zögerlich stimmte er mehr oder weniger zu. Es folgte die nächste Überraschung: Kommentare zum Bild und Grüße kamen recht zahlreich und munterten den Senior immer mehr auf. Vorher doch recht skeptisch Facebook & Co. gegenüber, freute er sich immer mehr über jeden einzelnen Kommentar, den ich ihm vorlas. Und damit nicht genug: Das Bild ging tatsächlich um die Welt bekam immer mehr Aufmerksamkeit, gewann Preise und war zudem in Ausstellungen zu sehen.
Daraufhin fasste er immer mehr Mut und bekam eine ganz andere Einstellung zur Fotografie und vor allem zu seinem Bild. Manchmal kam er von seinen Behandlungen wieder nach Hause und fragte gleich, wieviele Views, Klicks oder Kommentare das Bild denn nun schon hätte. Meine entsprechenden Auskünfte gingen dann stets mit einem Kopfschütteln und einem “Unglaublich!”, aber auch mit einem zufriedenen Lächeln seinerseits einher. Das für mich bis dahin niemals für möglich Gehaltene: Ich sollte das Bild ausbelichten und bei ihm zu Hause aufhängen. Noch eine Woche zuvor wäre das niemals überhaupt nur denkbar, ja geradezu absurd gewesen! Natürlich erfüllte ich ihm den Wunsch und kurze Zeit später hing das Foto in 60 × 40 Zentimetern als Alu-Dibond an der Wand und bereitete ihm beim täglichen Anschauen viel Freude.
Allerdings hatte diese Fotografie ungeahnte Folgen, denn plötzlich äußerte er den Wunsch nach weiteren Bildern! Ich musste mir also passende Shootings überlegen, neue Outfits dafür besorgen, entsprechendes Zubehör finden und natürlich jedes Mal seine Wohnung auf Links drehen. Aber das war völlig egal, denn das Schönste war für mich, dass er nun doch Spaß an den Shootings hatte. Und wie er das hatte! Auch die weiteren Fotos haben stets wieder Freude in sein Leben gebracht.
Fazit: Manchmal muss man halt doch einfach mal über seinen Schatten springen und die Regeln brechen – nicht nur die fotografischen…
Sven Wickenkamp
Sven Wickenkamp hat eine ganz eigene Philosophie, wie er an seine bevorzugten fotografischen Themengebiete herangeht. Und er nimmt sich Zeit für seine Art der Fotografie – für jede einzelne Aufnahme. Manche Motive benötigen sogar ganz besonders viel Zeit – und eine lange Belichtung. Dann sucht er die Perspektive, positioniert sein Stativ, fixiert die Kamera, steckt den Graufilter auf das Objektiv und widmet sich ganz dem Motiv und dem Moment…
Falls Sie Fragen zum Projekt oder aber auch allgemeiner Art haben, erreichen Sie Sven Wickenkamp über seine Homepage › www.wickenkamp.net.