Den Termin zum Besuch der Fotoausstellung „Überleben“ vom Herforder Fotografen Jürgen Escher in der Kommunalen Galerie im Kulturamt Bielefeld am 15. Januar 2020 haben wir bewusst gewählt, um bei seiner Führung die Fotoarbeiten zu sehen und ergänzend dazu auch seine Geschichten zu hören. Anlass dieser Ausstellung ist das 40jährige Bestehen der Hilfsorganisation Cap Anamur, zu dem Jürgen Escher auch im gleichnamigen Buch „Überleben“ die Arbeit von Cap Anamur mit seinen Fotografien dokumentiert. Ausgestellt werden ca. 60 Fotografien im Format etwa 60×40 cm, schwarz gerahmt, mit Passepartout hinter Glas. Alle Bilder in Farbe, bis auf ein Foto im größeren Format in Schwarz/Weiss.
Schon bevor wir uns zum Besuch dieser Ausstellung entschieden haben war deutlich, dass diese Ausstellung nicht hauptsächlich die Darstellung der fotografischen Kunst zum Ziel hat. Kenntnis und Anwendung der Technik allein kann nicht die Momente in Extremsituationen festhalten, die Emotionen und Geschichten der Not und Verzweiflung über ein Foto in die Welt tragen. Aufmerksamkeit, Einfühlungsvermögen, Mut und das Gespür für den richtigen Moment müssen zur Arbeitsweise von Jürgen Escher gehören, um das Vertrauen der fotografierten Menschen zu erhalten, damit solche Fotos, wie seine, entstehen können.
Brigitte Brand, Leiterin des Kulturamts Bielefeld, wies in ihrer kurzen Ansprache auf die soziale Verantwortung und Verpflichtung gegenüber den Menschen hin, die in bitterer Armut, von Krieg zerstörten oder von Katastrophen heimgesuchten Regionen mit ständiger Angst und Entbehrungen ausharren müssen. Diesen Menschen in nahezu aussichtslosen Situationen dennoch ihre Würde zu erhalten und eine Perspektive aufzuzeigen, sollte selbstverständlich sein.
Jürgen Escher begann die Führung durch seine Ausstellung mit einem Rückblick auf 40 Jahre Cap Anamur, einer seit 1979 tätigen, deutschen Hilfsorganisation, die mit aktiver, humanitärer Hilfe weltweit tätig ist. Gegründet von Christel und Rupert Neudeck startete 1979 das Flüchtlingshilfsschiff Cap Anamur den ersten Einsatz zur Rettung vietnamesischer Flüchtlinge im südchinesischen Meer, die als Boatpeople bekannt wurden. Aktuell stehen bei der Hilfsorganisation Cap Anamur/Deutsche Not-Ärzte e.V. die medizinische Versorgung Hilfebedürftiger, die Aus- und Weiterbildung von medizinischem Personal zur Stärkung der Eigeninitiative vor Ort und auch unterschiedlichste Projekte an Baumaßnahmen zur Instandsetzung oder Aufbau von medizinischen Einrichtungen und Schulen im Mittelpunkt.
Cap Anamur unterstützt mit schneller, unbürokratischer und auch nachhaltiger Hilfe in Krisenregionen, unabhängig von ethnischen, religiösen oder politischen Zugehörigkeiten der Betroffenen. Weltweit ist Cap Anamur in über 60 Ländern im Dienst der Menschlichkeit aktiv, finanziert ausschließlich durch private Spenden, die mit sehr geringem Aufwand für Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit nahezu vollständig in Hilfsmaßnahmen und Projekte fließen. Escher berichtete auch über die große Spendenbereitschaft nach Hilfeaufrufen, die jedoch innerhalb kurzer Zeit total versiegt, wenn die Medien nicht mehr über die Notlage der betroffenen Menschen einer Region berichten. Seine Bitte, auch weiterhin für die Ärmsten der Armen zu spenden, verband er mit dem Hinweis, Spenden nicht zweckgebunden zu entrichten, um auch nachhaltige Projekte in Katastrophengebieten mit den Geldern fördern zu können.
Von Beginn an spürten alle anwesenden Ausstellungsbesucher die ehrlichen Emotionen des Fotografen, der zu jedem einzelnen seiner Fotos die Geschichte des Moments der Aufnahme und darüber hinaus viele Details und weitere Zusammenhänge erzählen konnte. Bereits nach den ersten Bildern wurde aus dem Besucherkreis die Frage gestellt: „Wie hält man das denn überhaupt aus?“ Eschers Antwort: „Eigentlich gar nicht. Ich bin dabei – das schützt mich.“
In Folge der Führung sehen wir Fotos von den Auswirkungen durch Erdbeben, Kriege und anderen Katastrophen, vom Lager in Kutupalong, in dem über 300.000 Menschen leben und auf bessere Zeiten warten, warten, warten…, vom Alltag und den Lebensumständen der aus den zerstörten Dörfern Geflüchteten in den Nuba-Bergen, in denen die Kinder die Abwürfe der Bomben mitzählen, weil sie wissen, dass 16 Bomben in ein Flugzeug passen, von ersten Anzeichen eines wiederkehrenden „normalen“ Lebens, wenn nach Katastrophen ein ungeordneter Markt zum Tausch oder Handel mit Lebensmitteln und anderen Waren entsteht, eine Hochzeitsgesellschaft, umgeben von Trümmern ihres zerstörten Dorfes nach einem Erdbeben, weil das Hochzeitspaar dennoch den Termin nicht verlegen wollte…
Ausnahmslos sehr beeindruckende, berührende und aufrüttelnde Aufnahmen, die auch ohne jeglichen Begleittext von jedem Betrachter verstanden werden. Nur einmal wurde während der Führung gelacht: Bei der Erzählung Eschers, dass er bei seinen fotografischen Aktionen unterwegs oft 100 Kinder hinter sich hat, die, sobald er selbst stehen bleibt, alle vor ihm stehen. „Wie soll ich da noch mein Foto machen?“
Das Leben stellt sich in Farbe dar, egal ob es schöne, harmonische oder zerstörerische, grausame und kriegerische Szenen sind. Dennoch war ich überrascht, dass Jürgen Eschers Exponate alle in Farbe ausgestellt werden – bis auf eines, das er in Schwarz/Weiss präsentiert. Es zeigt einen Cap Anamur-Helfer bei der lebensgefährlichen Rettung von Kindern aus einem leckgeschlagenen Boot in tobender See. Eines der ganz besonderen Bilder, das auch ihn selbst immer wieder beeindruckt.
Seine emotionale Führung endete mit der Feststellung, dass Südafrika nicht Afrika ist. Dass die Gastfreundschaft der Ärmsten am Größten ist. Und auch mit seinem Bekenntnis: „Ich bin Fotograf geworden, weil Schreiben nicht meine Stärke ist, aber ich schreibe mit meinen Bildern! Ich mache weiter, solange ich die Fototasche tragen kann.“
Dieser Ausstellungsbesuch war etwas Besonderes. Anders, als wir bisher Ausstellungen gesehen und erlebt haben. Besonders war auch die Führung durch den Fotografen Jürgen Escher. Dass Eschers Fotografien alle mit hervorragender Qualität in Bezug auf angewandte Aufnahmetechnik, Ausarbeitung und Präsentation gezeigt werden, zeichnet diesen Fotografen ergänzend zu seinen menschlichen Stärken aus.